Die Ohrfeige

Eines Tages, Großvater war nun ein Jahr bei ihnen, ging Anna wie gewohnt ins Zimmer zu Großvater. Er lag bleich und beinahe regungslos im Bett. Sie erschrak als sie auf ihre Frage, ob er etwas brauche keine Antwort bekam, nur ein Stöhnen war zu hören. Panik erfasse sie, was soll ich tun? Wer kann helfen? Sie ging zum Bett und berührte Großvater, er sah sie an und sagt leise:

“Es geht ma ned guid, Dirndl.“ „Großvater, ich komme gleich wieder, ich telefoniere nach dem Doktor, keine Angst.“

Anna nahm den Zettel, auf dem ihre Mutter die Tel. Nr. des Arztes notiert hatte und stürmte aus der Wohnung. Sie hatten selber kein Telefon, also läutete sie bei der Nachbarin. Frau Trenner öffnete und fragte was los sei. „Bitte, darf ich…der Großvater, es geht ihm schlecht“ stotterte Anna. Schließlich nahm sie sich zusammen und sagte: “ Darf ich bitte telefonieren? Ich brauche den Arzt für Großvater.“ „Ja, komm rein, wenn´s denn sein muss, aber fasse Dich kurz, das kostet alles Geld !“

Mit zittrigen Fingern wählte Anna die Nummer und als sie endlich den Doktor am Apparat hatte, schilderte sie ihm die Lage.

Er kam eine Stunde später und entschied, der Großvater müsse ins Krankenhaus. Anna war völlig durcheinander. Der Arzt sagt zu ihr: “Wo kann ich telefonieren? Ich muss einen Krankenwagen rufen und deine Mutter anrufen, sie soll dann ins Krankenhaus kommen.“  Wieder musste Anna bei der Nachbarin anläuten, die diesmal, als sie den Herrn Doktor sah, etwas freundlicher war. Anna hatte Angst als Sanitäter den alten Mann hinaustrugen und ihn in den Krankenwagen hievten. Sie wusste nicht was sie tun sollte und Großvater sah sie so hilfesuchend an.  „Bitte“ sagte sie zu dem Sanitäter „Bitte, darf ich mitfahren?“

Sie durfte und hielt Großvaters Hand während der kurzen Fahrt.

Im Krankenhaus war Anna dann plötzlich alleine, man sagt ihr nur, sie könne heimgehen oder warten, wie sie wolle. Sie wartete… Als endlich eine Schwester zu ihr kam, sagt diese zu Anna: “ Bist Du verwandt mit dem Mann?“ „Ja, er ist mein Großvater, wie geht es ihm?“ „Ist denn kein Erwachsener hier mit dem ich sprechen kann?“ fragte die Schwester. „Nein, aber meine Mutter wird bald kommen“ antwortete Anna. „Dann soll sie sich bei mir melden wenn sie da ist, dort vorne im Schwesternzimmer findet ihr mich. “ Mit diesen Worten drehte sie sich um und ließ Anna stehen. Während Anna auf ihre Mutter wartete, flogen die Gedanken nur so durch ihren Kopf.

Stirbt er jetzt? Ist er vielleicht schon gestorben? Bitte lieber Gott, lass ihn nicht sterben. Aber wenn er sterben würde wäre ich frei….keine Pflichten mehr, kein Pflegen und kein immer daheim sein müssen….nein sowas darf ich nicht denken, er darf nicht sterben, das würde Mutti traurig machen. Sie dachte an den Tag als Großmutter starb und wie ihre Mutter geweint hatte. Bitte lieber Gott, er darf nicht sterben.

Mitten in diesem Gefühlschaos sah sie endlich ihre Mutter kommen. Anna rannte auf sie zu und stammelte: “ Ich kann nichts dafür, ich weiß nicht was er hat, er war so komisch und da hab ich den Doktor angerufen."  “Schon gut Anna, das hast du richtig gemacht, komm mit“ sagte ihre Mutter. Sie gingen ins Schwesternzimmer und dort erklärte die Schwester, dass es Großvater nicht gut ginge, sie sagte etwas von zu niedriger Puls, Blutdruck und vieles was Anna nicht verstand. Großvater müsse einige Zeit im Krankenhaus bleiben zu Beobachtung.

Anna war erleichtert. Einerseits weil er nicht gestorben war, andererseits, weil sie einige Zeit ohne Großvater sein konnte.

Ein wenig Freiheit genießen nach einem Jahr voller Pflichten.

Sie war jetzt 14 Jahre alt. In der Hauptschule war es ein wenig besser geworden, sie hatte zwei neue Schulfreundinnen, Petra und Gerlinde. Diesen Mädchen machte es nichts aus, dass sie nie Zeit hatte, denn sie waren Beide von einem Dorf und Töchter von Bauern. So hatten sie auch nie viel Zeit im Sommer und mussten nach der Schule meist gleich nach Hause. Die Drei verbrachten ihre Pausen miteinander, schwatzten, lachten und erzählten einander  ihre kleinen und größeren Kümmernisse.

 

Mit Frieda verbrachte sie trotzdem noch gelegentlich ein paar Stunden, wenn auch weniger als früher. Manchmal kam Frieda am Nachmittag zu Anna in die Wohnung, aber auch das geschah immer seltener, da Anna sich immer um den Großvater kümmern musste. Der alte Mann war nämlich manchmal ganz schön lästig. Wenn er merkte, dass jemand bei Anna war, rief er sie oft in sein Zimmer und wollte irgend etwas.

Frei für eine kurze Zeit, was wollte sie da alles unternehmen ! Nach der Schule nicht sofort nach Hause gehen, herumstreunen, in den Park gehen mit den anderen Mädchen, lachen und Spaß haben.

Doch sehr schnell merkte sie, dass sie immer noch die Außenseiterin war.

Am ersten Tag ohne Großvater ging sie nach Schulschluss voller Vorfreude in den Park. Erwartungsvoll schaute sie sich um und sah ein paar Mädchen aus ihrer Klasse auf einer Bank sitzen. Langsam näherte sich Anna und fragte: "Was macht ihr hier? Habt ihr irgendetwas vor? Darf ich ein wenig bei Euch bleiben?" Elke, die Wortführerin in der Klasse, schaute Anna verächtlich an.

"Was willst Du denn hier?  Warum sollten wir ausgerechnet Dich mitmachen lassen? Verschwinde, wir brauchen Dich hier nicht !"

Die anderen Mädchen lachten und gaben Elke recht. Das taten sie immer, denn Elke war die Tochter von reichen Geschäftsleuten in der Stadt. Alle rissen sich darum, mit ihr befreundet zu sein. Anna war wie vor den Kopf geschlagen. Sie drehte sich um und ging weg. In ihr war ein Aufruhr. Wut und Enttäuschung brannten in ihr wie Feuer. Von weitem hörte sie noch das hämische Lachen der Mädchen und die Worte, die sie ihr nachriefen: " Kupferdach, Kupferdach, schieb die Haare in den Arsch !"

Diesen und andere Sprüche hörte Anna nicht zum ersten mal. Sie kannte sie alle, diese jämmerlichen  Reden, die nur Eines bezweckten: Sie zu beleidigen und ihr weh zu tun. Doch seltsamerweise geschah an diesem Tag genau das Gegenteil.

Abrupt blieb sie stehen, drehte sich um, ging ein Stück zurück zu den Mädchen und schrie. "Ihr blöden Kühe, glaubt ihr vielleicht das macht mir etwas aus ? Elke, Du hast bei Deinem Namen die Buchstaben vertauscht, in Wahrheit heißt Du nämlich EKEL !

Und Du,  Angela, Du spottest wohl am lautesten über meine Haare, weil Du selber mit Deinem Gestrüpp am Kopf nichts anfangen kannst. Ihr könnt mir alle gestohlen bleiben!"  Bei diesen Worten sprang Angela  wie eine Furie auf Anna zu und schrie:

" Was sagst Du da ? Meine Haare sind tausendmal besser als Deine feuerroten Zotteln. Du bist es nicht Wert auf dieser Welt zu leben. Hau ab und lauf zu Deine Mama, einen Vater hast Du ja sowieso nicht, Du Dreckstück."

Und da passierte es .... Anna schlug zu.  Sie verpasste Angela eine Ohrfeige. In dieser Ohrfeige lag ihr ganze Wut. Ihre Wut über all die Hänseleien der Vergangenheit. Sie schlug so fest zu, dass man an Angelas Wange sofort einen roten Fleck sah.

Dann drehte sie sich um und ging.  Wie durch eine Wattewand hörte sie noch die Beschimpfungen und das Geschrei der Mädchen, doch sie ging weiter. Zitternd kam sie daheim an, doch sie weinte nicht, keine einzige Träne.

Sie versuchte nie wieder mit anderen Mädchen nach der Schule etwas zu unternehmen. Es hatten sich Cliquen gebildet, für Anna war nirgends Platz. Keiner interessierte sich für sie, niemand wollte ihre Gesellschaft.

Vielleicht, wenn Anna etwas mehr Selbstbewusstsein gehabt hätte, hätte sich alles ein wenig anders entwickelt. So aber zog sie sich zurück und war wieder alleine.

Die Ohrfeige hatte jedoch Folgen.  Am nächsten Tag, einem Samstag, stand Frau Heller, Angelas Mutter vor der Tür.

Annas Mutter war daheim und ließ sie herein. Angelas Mutter fing sofort zu zetern an. "Weißt Du was deine Tochter getan hat?" schrie sie auf Annas Mutter ein.  Diese verneinte und sagte : "Was meinst du? Beruhige dich doch mal, du musst nicht schreien mit mir."  "Sie hat Angela geschlagen ! Dieses Miststück hat meine Tochter geschlagen" schrie Frau Heller mit einem bösen Blick auf Anna.

Mutter schaute Anna an und fragte: "Stimmt das, Anna? "  Anna nickte. Frau Heller schrie weiter: " Natürlich stimmt es, oder glaubst du ich lüge? Sie hat ihr  im Park aufgelauert, ist über sie hergefallen und hat sie ohne Grund verprügelt. Du solltest mehr auf deine Tochter achtgeben, sonst landet sie noch weiß Gott wo, dieses Luder."

Annas Mutter ging auf Frau Heller zu und sagte : "Pass auf was du sagt, und vor allem, schrei nicht mit mir in meiner Wohnung, sonst bist du nämlich schneller draußen als du reingekommen bist. Anna ist kein Luder und sie hat ganz sicher nicht ohne Grund deine Angela geschlagen. Natürlich ist es nicht richtig, was sie getan hat, aber jetzt will ich erst mal hören, was Anna dazu zu sagen hat, du hältst so lange den Mund !"

Beide Frauen sahen Anna erwartungsvoll an. Annas Mutter mit einem liebevollen Blick, Frau Heller mit einem  Blick voller Hass. Anna richtetet sich auf und begann zu berichten. Als sie geendet hatte, sagte ihre Mutter: " Anna, du weißt selber, dass es nicht richtig war, so zu handeln, aber ich kann dich sogar ein wenig verstehen."

"Was?" schrie Frau Heller, "Du  glaubst diesem Luder was sie da erzählt?  Nie im Leben hat meine Angela so böse Worte  zu Anna gesagt. Dieses Dreckstück lügt doch wie gedruckt !"

Jetzt wurde auch Annas Mutter wütend: " Wenn Anna sagt, Angela hat sie ein Stück Dreck genannt, dann glaube ich ihr das.

Du hast mir ja soeben selber sehr eindrucksvoll bewiesen, dass solche Schimpfworte wie "Deckstück"  und "Luder" wohl in eurem täglichen Sprachgebrauch vorkommen. Bei uns ist so eine Redeweise nicht üblich. Und jetzt bitte ich dich zu gehen."

Mit diesen Worten öffnete sie die Wohnungstür und drängte Frau Heller hinaus.

Anna war froh, dass ihre Mutter  sie nicht bestraft hatte, denn insgeheim hatte sie mit einer Strafe gerechnet. Doch andererseits, womit hätte sie sie bestrafen können? Mit Hausarrest, das wäre schlimm gewesen, denn jetzt, wo der Großvater nicht da war, hätte diese Strafe Sinn gemacht.

Auch über diese Sache wuchs Gras und geriet in Vergessenheit. Nicht jedoch in Annas Gedächtnis. Die Worte: Du bist es nicht Wert auf dieser Welt zu leben und einen Vater hast Du ja sowieso nicht, blieben haften.

 

Die Zeit ohne Großvater nützte sie nun, um stundenlang in der Leihbücherei zu stöbern. Sie liebte den Geruch der Bücher. Lesen war Annas große Leidenschaft, es war ein Tor zur Welt durch das sie in ihrer Fantasie oft schritt.

 

Schnell verging die Zeit ohne den Großvater und bald schon war Anna wieder gefangen in den Alltagspflichten.

 

Einmal, als ihre Mutter Urlaub hatte, durften Petra und Gerlinde zu Anna nach Hause kommen. Es war ein wunderbarer Nachmittag. Annas Mutter scherzte mit den Mädchen, machte ihnen tolle Frisuren und sie hatten viel Spaß. Annas Freundinnen waren begeistert von Anna´s  Mutter, denn sie waren es nicht gewohnt, von einem Erwachsenen so ernst genommen und um ihre Meinung gefragt zu werden. Sie beneideten Anna um ihre Mutter, sie beneideten sie auch um ihre langen roten Haare, die ihre Mutter an diesem Tag mit dem Lockenstab zu herrlichen Locken formte. Es war ein neues Gefühl für Anna, dass sie um etwas beneidet wurde. Es war aber kein missgünstiger Neid, sondern einfach ehrliche Bewunderung. Anna war an diesem Tag so stolz und glücklich. Petra und Gerlinde kamen nun manchmal zu Anna nach Hause. Vor allem im Winter, wenn es auf den Bauernhöfen nicht so viel zu tun gab, erlaubten es die Eltern der Beiden. Die drei Mädchen verstanden sich gut und keinen störte es, dass Anna sich um Großvater kümmern musste.

Als Anna 40 Jahre später, bei einem Klassentreffen die Beiden wieder traf, sagte Gerlinde: “ Ich erinnere mich noch gut an einen Tag bei dir zu Hause. Deine Mutter hatte uns Locken gemacht und gesagt: Wenn diese Locken nicht locken, dann locken keine Locken. Deine Mutter war eine wunderbare Frau, so klug, herzlich und offen ! “

Anna lächelte und sagte:“ Ja, das war sie!“

FORTSETZUNG FOLGT