Prolog

 „Alles Gute zum Geburtstag, mein Mäuschen.“ Liebevoll nimmt  Anna´s Mann sie in die Arme. Sie lehnt sich an ihn und fühlt sich geborgen.  Es war ein langer Weg zu dieser Geborgenheit, zu diesem Gefühl, sich auf einen Mann wirklich und wahrhaftig verlassen zu können, vertrauen zu können, geliebt zu werden so wie man ist, mit allem Drum und Dran.  Es ist Annas 60. Geburtstag. Verflogen sind so viele Jahre und doch glaubt sie, noch nicht alles erlebt zu haben.

„Am Ziel bin ich noch lange nicht“ denkt Anna und hat eigentlich keine Vorstellung, wo sich das Ziel befindet. Das ganze Leben scheint ihr ein Weg mit kleinen Zielen zu sein. Etappensiege hat sie einige errungen, ebenso Niederlagen.  Doch getreu ihrem Lebensmotto „glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist“ kann sie mit allen bösen Erfahrungen jetzt sehr gut umgehen. Vergessen hat sie viele schlimme Ereignisse ihres Lebens natürlich nicht, doch sie lässt nicht zu, dass die Vergangenheit die Zukunft belastet. Den Rucksack mit den Altlasten hat sie abgelegt, nur manchmal gibt sie sich den Erinnerungen hin. Ach, und es gab ja auch viele schöne Momente….

 

Am Abend, als Anna an diesem Geburtstag alleine ist weil ihr Mann Nachtdienst hat, macht sie es sich gemütlich mit einer Flasche Wein und Musik.  Dann kommen die Gedanken über ihre Zeit als kleines Mädchen, wo sie noch die Geborgenheit kannte, die sie heute wieder verspürt. Bei ihrer Mutter und ihren Geschwistern, vor allem bei Mutter und ihrer ältesten Schwester. Beide vermisst Anna heute besonders schmerzlich. Mutti würde ihr sagen, wie stolz sie auf Anna ist und ihr zum wiederholten Male sagen, dass Anna bei der Geburt das meiste Gewicht von allen ihren Kindern auf die Waage brachte.  Anna würde mit einem Lachen antworten: “Das ist vielleicht heute auch wieder der Fall“.  Ihre Schwester würde ihr in einer weichen, warmherzigen Umarmung dieses unvergleichliche Gefühl von Schwesterliebe geben. Ein paar Tränen kollern nun aus Annas Augen bei der Erinnerung an diese beiden wunderbaren Frauen.

 

„60 Jahre“ sagt Anna nun laut vor sich hin. „ Ich mag nicht 60 Jahre sein, das gibt es nicht, ich kann doch nicht schon so alt sein. Aber eigentlich ist es egal, ich sehe für mein Alter ja wirklich noch gut aus, die paar Fältchen stören mich nicht und die paar Kilos zu viel auch nicht. Ok, gelogen, die Kilos stören mich doch, abnehmen ist schwer.“ Sie erinnert sich, dass ihr ein einziges Mal eine Diät gelungen ist, 17 Kilo in einem halben Jahr, das war einer ihrer Etappensiege. Aber da sie ein Genussmensch und nicht sehr konsequent bei ihrer Ernährung ist, sind 7 Kilo schon wieder drauf. Egal.

Jetzt noch ein Glaserl Wein.

Prost ihr Menschen die ihr mir in den 60 Jahren begegnet seid.

Prost ihr Idioten, die ihr mein Potential nicht erkannt habt!

Prost ihr Männer, die mich ein Stück meines Lebens begleitet haben ohne Chance  es in meine Zukunft zu schaffen weil auch ihr meinen Wert nicht erkannt habt.

Ja, und ein doppeltes, nein, ein dreifaches Prost an dich, mein Exmann. Du dachtest, mich mit Gewalt brechen zu können, mit Gewalt im wahrsten Sinne des Wortes. Das einzig Gute, das Beste aus meiner Ehe mit Dir, sind meine Kinder, danke dafür. Für alles Andere verachte ich dich.

Prost liebe Freundinnen aus allen Jahrzehnten, mit Euch war es immer schön.

Prost ihr Leute, die mich bestärkt haben in allem was tue.

Prost mein Herzblatt von einem Ehemann, der mich sein lässt wie ich bin.

 

Die Weinflasche ist leer, der Kopf noch nicht, eine Reise in die Vergangenheit beginnt.