4. Kapitel

Stumme Kröte

 

Nach diesem Erlebnis auf dem Dachboden, war für Anna und Frieda der Dachboden lange Zeit tabu. Natürlich wurde viel getuschelt, es folgten Moralpredigten von ihren Müttern, doch Anna hatte Glück, ihre Mutter glaubte ihr ihre Darstellung des Vorfalles und irgendwann war Gras über die Sache gewachsen.

Erst viele Jahre später ging Anna wieder einmal an diesen Platz um noch einmal diesen Geruch einzuatmen, noch einmal dieses unbeschwerte Gefühl zu erleben, noch einmal ihre Kindheitserinnerungen zurückzuholen. Aber der alte Zauber stellte sich nicht mehr ein, denn es war immer nur dieses Erlebnis mit den beiden Jungen, das ihr in den Sinn kam. Obwohl sie als junge Frau diesen Vorfall gar nicht mehr so tragisch fand, so hatte er doch Eindruck hinterlassen. Später war ihr klar, dass die Buben wahrscheinlich nur ihre Neugierde befriedigen wollten.

 

Die Mädchen entdeckten nun wieder den Friedhof für sich. Immer wieder trieben sie sich dort herum. Dem Tod so nahe zu sein hatte etwas prickelndes, faszinierendes für Anna.

Sie betrachtete die Inschriften auf den Grabsteinen, rechnete anhand der Geburts - und Todesdaten aus, wie lange dieser Verstorbene gelebt hatte, fand es besonders traurig, wenn jemand nur kurz auf der Welt war. Der Friedhof war für sie wieder ein Ort wo sie eine seltsame Geborgenheit spürte.

Aber eine andere Sache machte Anna nun zu schaffen.

Belastet mit einem sehr ausgeprägten Minderwertigkeitskomplex trat sie in einen neuen Lebensabschnitt ein.

Die Pubertät…war es nicht schon schrecklich genug, rote Haare und Sommersprossen zu haben, kamen nun auch andere Sachen dazu. Pickel, Rundungen, Warzen an den Fingern.

Eines Morgens stand Anna wieder vor dem Spiegel und fand sich hässlich.

Sie war nun zwölf Jahre alt und hasste sich, ihr Aussehen und die vielen Warzen an ihren Händen. Sie war nicht mehr das süße kleine Mädchen mit den hübschen Zöpfen und Schleifen im Haar, sie war ein kleines Monster dem niemand die Hand geben wollte.

Bei Schulausflügen ging sie alleine, denn niemand wollte in der Zweierreihe mit ihr gehen, ihr die Hand geben. Wenn im Turnunterricht ein Kreis gebildet wurde und man sich bei den Händen fassen musste, stand Anna da, den Tränen nahe. Keiner wollte neben ihr stehen, jedem grauste vor ihr. Einmal lief sie sie in der Turnstunde aus dem Turnsaal und sperrte sich in der Toilette ein. Die Lehrerin hämmerte an die Türe und schrie: „Komm sofort heraus du Kröte" doch Anna machte nicht auf. Schließlich holte die Lehrerin den Schuldirektor.

Der ging an die Sache etwas ruhiger heran, mit gutem Zureden gelang es ihm, Anna dazu zu bewegen die Türe zu öffnen.

Mit gesenktem Kopf stand sie vor dem Direktor. Der sagt nur, „Anna, zieh dich an und komm dann in die Direktion."

Anna zitterte vor Angst, als sie das Zimmer des Direktors betrat. Dieses riesige Zimmer mit den schweren Holzschränken, der große Schreibtisch, alles flößte ihr Angst und Respekt ein.

Der Direktor sagte mit einem Zwinkern: "Komm her, Anna, setz dich zu mir, keine Angst, ich beiße nicht."

Zögernd nahm Anna auf dem Sessel vor dem Schreibtisch Platz. Diesen Sessel nannte sie heimlich „den elektrischen Stuhl", denn nur wer etwas angestellt hatte, musste zum Direx und sich auf diesen Stuhl setzen. Innerlich bebte sie vor Angst, doch sie hob den Blick und schaute dem Direktor in die Augen. Was sie dort zu sehen glaubte, nahm ihr ein wenig von ihrer Angst.

Sie sah Verständnis, und so etwas wie Mitgefühl.

Er fragte: "Willst du mir sagen, weshalb du dich auf der Toilette eingesperrt hast?"

Anna schüttelte stumm den Kopf. Sie konnte keinem Menschen sagen was in ihr vorging.

Sie schämte sich wieder einmal. Sie versteckte ihre Hände auf dem Rücken und blieb stumm.

Der Direktor stand auf und ging im Zimmer hin und her. Vier Schritte nach vorne, vier Schritte zurück. Dann ging er auf Anna zu, beugte sich zu ihr und versuchte, ihre Hände in die seinen zu nehmen. Sie wehrte sich, doch auf einmal war es ihr egal. Sie hielt ihm ihre Hände hin und schrie: „Wollen sie die Hände einer Kröte anfassen? Bitte, hier, schauen sie, das will niemand anfassen, da graust es Jedem. Und immer müssen wir beim Turnen einen Kreis bilden, keiner gibt mir die Hand, sogar die Lehrerin nennt mich Kröte!"

Der Direktor nahm Annas Hände ganz behutsam in seine großen Hände, er zögerte keinen Augenblick, er strich mit dem Finger über die dickste Warze am Mittelfinger und sagte: "Deshalb bist du also davongelaufen und hast dich eingesperrt!"

Anna nickte nur. Ihre Augen waren auf die Hände des Direktors gerichtet, die so liebevoll die ihren hielten. Bewegungslos saß sie da, sie wollte ihre Hände nicht mehr wegnehmen, dieses wundervolle Gefühl gestreichelt zu werden auskosten. In diesem Augenblick wünschte sie sich, der Direktor wäre ihr Vater.

Dann war dieser für Anna magische Moment vorbei, der Direktor ließ ihre Hände los, streichelte ihr übers Haar und sagte:

"Du hast so hübsche Haare Anna, und diese Warzen werden vergehen, glaube mir. Ich werde mit Deiner Lehrerin sprechen und du brauchst keine Angst zu haben, alles wird wieder gut, du kannst gehen."

Wie in Trance verließ Anna das Zimmer.

Doch es geschah kein Wunder, oder nur ein Kleines. In der nächsten Turnstunde beauftragte die Lehrerin Anna, Matten wegzuräumen oder Medizinbälle zu holen während die anderen Kinder einen Kreis bildeten. Es war nicht besser für Anna, denn die Kröte blieb sie, und in den Kreis wurde sie nie mehr aufgenommen. Daheim erzählte sie nichts von diesem Vorfall und ein paar Tage lebte sie in der Angst und manchmal auch in der Hoffnung, der Schuldirektor würde ihre Mutter informieren.

Doch das tat er nicht und auch Anna blieb stumm.

Die folgenden Monate war ihr einziges Ziel die Warzen zu bekämpfen. Es war ihr größtes Problem.  Sie dachte, den Sommersprossen widme ich mich später, jetzt sind mal die Warzen dran. Und was sie alles probierte. Irgendjemand sagt ihr, sie müsse sich in einer Vollmondnacht auf die Warzen pinkeln, sie tat es widerwillig….die Warzen blieben. Dann bekam sie von einem Verwandten ein merkwürdiges, raues Ding. „Das ist ein Bimsstein" erklärte er ihr „reibe damit an den Warzen bis sie weg sind."  Anna rieb...täglich, das Blut lief ihr über die Finger, die Stellen entzündeten sich, aber die Warzen blieben.

Zwischendurch wünschte sich Anna, die Sommersprossen auf ihrer Haut mögen zusammenwachsen, sodass eine einheitlich schöne braune Haut entstünde.

Qualvoll vergingen die Monate. Eines Tages fragte Anna ihre Freundin: „Sag mal Frieda, graust dir nicht vor mir?“

Frieda war die Einzige, die anscheinend gerne mit ihr zusammen war. Das wunderte Anna, konnte es nicht verstehen.

Frieda schaute sie verständnislos an. „Warum soll mir grausen vor dir? Du bist doch meine Freundin!"

„Na wegen der Warzen" sagte Anna leise. Frieda schüttelte nur den Kopf und sagte: "Komm, spielen wir lieber Tempelhüpfen." Das war ihr Lieblingsspiel zu der Zeit, beim Tempelhüpfen vergaß Anna ihre Kümmernisse. Sie zeichneten mit einem Stück Holz das Spielfeld in die Erde, jede nahm sich ihren flachen Stein und los ging es. Der Stein sollte deshalb flach sein, weil man ihn in eine bestimmte Stelle im Spielfeld werfen musste, ein runder Stein wäre womöglich zu weit gekullert. Lange Zeit hatte Anna immer nach dem perfekten Stein Ausschau gehalten. Wenn ihr Einer besonders gut gefiel, bewahrte sie ihn auf. Auf einem Bein hüpfend musste man dann nach verschiedenen Regeln die einzelnen Spielfelder durqueren. Den Stein immer wieder aufnehmen und man durfte nicht übertreten, sprich, nie auf eine Grenze zwischen den Feldern hüpfen.

Mitten im schönsten Spiel hörte Anna ihre Mutter ihren Namen rufen. Sie sah beim Küchenfenster raus und rief: "Anna, komm sofort rauf." Anna bettelte: "Bitte, darf ich noch das Spiel fertig spielen? Dauert nicht mehr lange!" „Nein" rief ihre Mutter streng „sofort raufkommen, es ist etwas passiert"